Ein Schauspiel über die Weitergabe von Traumata zwischen den Generationen
Mit Irene Kleinschmidt & Franziska Mencz
Buch & Regie: Hans König
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von Klaus Dirschauer
Die Premiere des Schauspiels Wölfinnen im Bremer Theater von Hans König mit den beiden Schauspielerinnen Irene Kleinschmidt und Franziska Mencz verdient weit mehr als den stark anhaltenden Beifall des Publikums und zwei weitere ausverkaufte Vorstellungen.
Das Werk dieses personenreichen und kulissenarmen Worttheaters könnte auch Schuld und Sühne in Quedlinburg oder ganz einfach Schwestern heißen.
Sein Wesensmerkmal besteht darin, dass ein Mann das Drama dieser beiden derartig unterschiedlichen Frauen geschrieben und in dem Stück die Regie geführt hat, in dem nur diese beiden – in wechselnden Rollen die Bühne betreten und vor- und nachspielen, was unzählig viele Frauen in Deutschland erlitten und erlebt haben.
Doch nicht die nachhaltig starke psychische Erschütterung der Vergewaltigungen ist das Thema dieses Dramas, vielmehr das familiäre und intergenerative Beschweigen des Namenlosen.
Das zur-Sprache-Bringen reißt den großdeutschen wie deutsch-deutschen Handlungsrahmen der Bühne auf und spitzt ihn auf das Dreigestirn, auf die archaische Trias dieser drei Frauen zu: Die sterbende Mutter, die bei ihr gebliebene Tochter, die sie pflegt und die 1990 in den Westen weggegangene andere Tochter, die zur Sterbenden zurückgekehrte Tochter. Ein einfach großartiges Wort-an-Wortspiel der Frauen auf der Bühne.
Aus dem Dunkel der Bühne tritt der klassische Konflikt der Versöhnung der drei Frauen zu Tage, und zwar ohne jegliche Metaphysik – mit einer simplen Kartoffelsuppe mit Liebstöckel wie Mutter sie kochte und dem ebenso überzeugenden Eingeständnis der Schwestern zueinander, aufeinander stolz zu sein.
Auch für den zuschauenden Zuhörer ein froh und versöhnt stimmendes Gemeinschaftsritual am erhaltenen Küchentisch, symbolträchtig.
Susanne pflegt ihre sterbende Mutter Waltraut. Gemeinsam leben sie in Quedlinburg. Kurz vor dem zu erwartenden Tod Waltraut erscheint die jüngere Schwester Inga, die schon lange im Westen lebt. Sie möchte ihre Mutter ein letztes Mal sehen.
Die beiden Schwestern haben sehr verschiedene Lebensläufe, Ansichten und Werte. Susanne, die die Mutter jahrelang pflegte, sieht sich als Opfer der Wende und des politischen Systems. Die jüngere Schwester ist als erfolgreiche Akademikerin im Westen „angekommen“.
In einem schmerzhaften Annäherungsprozess entdecken sie, wie sehr die von der Kriegs- und Nachkriegszeit geprägten Verhaltensmuster ihrer Großmutter und Mutter sie geprägt haben. Hierüber finden sie langsam wieder einen Zugang zueinander.
Was Susanne und Inga nicht wissen, zieht sich gleichsam wie ein roter Faden durch das Stück.
Ihre Mutter Waltraut ist das Kind einer Vergewaltigung durch einen Soldaten. Begleitet von einer lebenslangen, mehr oder weniger offene Ablehnung durch den deutschen Ehemann ihrer Mutter, der erst Jahre später aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, wurde Waltrauts Geschichte in der Familie aktiv „beschwiegen“.
Wölfinnen thematisiert dabei besonders die Übertragungen erlittener Traumata zwischen den Generationen an die Oberfläche. Das Stück, ein Kammerspiel, untersucht die generationsübergreifenden Auswirkungen traumatischer Erlebnisse. Konkret, das (unbehandelte) Vergewaltigungstrauma, verstärkt durch die Tabuisierung der aus dem Krieg heimkehrenden deutschen Männer. Es möchte in dieser fiktiven, aber realistischen Geschichte die Auswirkung von Einkapselungen und Verschweigen bis in die Handlungsmuster der Enkelgeneration aufzeigen. Wölfinnen geht es um den historischen Gehalt unseres Verhaltens, um jenen Rest, den wir selbst in unseren Handlungen nicht durchdringen, weil er oftmals Grund für unsere Handlungen ist.
Inga ist in Quedlinburg/Sachsen Anhalt geboren. Der kleine Ort liegt in der Nähe von Magdeburg.
Als die Mauer fiel, war sie 16 Jahre alt. Zwei Jahre später ging sie in den Westen, studierte dort Kunstgeschichte. Sie sozialisierte sich in den westlichen Universitätsstädten und hatte stets Freundinnen und Partner aus den alten Bundesländern. Den Osten, bzw. das Lebensgefühl, welches Inga in ihrer Jugend begleitete, verdrängt sie.
Heute fühlt sich Inga nicht als Ostdeutsche. Sie schaut eher skeptisch auf die Menschen aus dem Osten, findet sie in einer fortwährenden Unzufriedenheit gefangen, hält sie für passiv, und fordernd. Sich selbst hält sie für reflektiert, gebildet, anpassungsfähig und einfühlsam. Sie arbeitet als Kunsthistorikerin bei einer Stiftung, nimmt an internationalen Tagungen teil und hat einen berufsbedingt umfassenden aber auch etwas distanzierten Blick auf die Geschichte. So erfolgreich sie in ihrem Job ist, desto weniger gelingt ihr das private Leben. Sie hat eine Trennung und einen unerfüllt gebliebenen Kinderwunsch hinter sich.
Susanne ist Ingas ältere Schwester. Geboren 1970, blieb sie nach der Wende an ihrem Wohnort Quedlinburg. Sie heiratete Norbert, einen Elektroingenieur, und machte eine Ausbildung als Erzieherin. Norbert und sie bekamen zwei Kinder. Hajo (1994) und Pia (1999).
Susanne lebte früh das durchgetaktete Leben einer berufstätigen Mutter. Die Ehe kam dabei zu kurz. 2005 wurde sie geschieden. Norbert heiratete neu, zog nach Berlin und wurde nochmals Vater. Von da ab musste Susanne mit finanziellen Problemen kämpfen. Sie zog mit den Kindern ins Haus ihrer Mutter Waltraut. (Der Vater war bereits in den 1980ern gestorben). Susannes Leben wurde noch arbeitsamer. Für Urlaube gab es weder Zeit noch Mittel. Vor 10 Jahren erkrankte Waltraut an Demenz. Susanne übernahm die häusliche Pflege und erlebte, wie die Krankheit ihre Mutter immer mehr veränderte.
Das Verhältnis zwischen Susanne und ihrer Tochter Pia ist problematisch, es ist dominiert von vielen unausgesprochenen Erwartungen, die Susanne an ihre Tochter hat. Hajo, Susannes ältester Sohn, arbeitet in einer Discounterfiliale und lebt als Single in der Nähe von Frankfurt/Oder. Er ist örtlicher Funktionär einer rechtsextremen Partei.
Susanne neigt den politischen Positionen ihres älteren Sohnes zu, der sie regelmäßig mit „Informationen“ versorgt. Ihr gefällt der rigorose, autoritäre Ton der Partei, auch wenn sie deren Rassismus und Hetze nicht überzeugt.
Ist die Mutter von Inga und Susanne. Als unsere Geschichte beginnt, liegt sie im Sterben.
Aber ihr Abschied von der Welt zieht sich schon lange hin. Waltraut war einst eine eloquente, lebensfrohe Frau. Vital, intelligent und unabhängig. Nach dem Tode ihres Mannes Erich blühte sie noch einmal auf, bevor die Demenz sie dann einholte.
Ihr nicht leiblicher Vater Karl war in Kriegsgefangenschaft, als auch Quedlinburg Teil der sowjetisch besetzten Zone wurde. Hedwig, die Mutter Waltrauts, wurde 1945 mehrfach von russischen Soldaten vergewaltigt. Waltraut ist das Kind eines unbekannten russischen Vaters. Karl kam als gebrochener Mann aus der Gefangenschaft zurück. Er lehnte das Kind vom ersten Tag an ab.
Hedwig
Mutter von Waltraut, Großmutter von Susanne und Inga
Pia
Tochter von Susanne
Die Männer:
Karl
Hedwigs Ehemann, Waltrauts Vater (nicht-biologisch)
Erich
Waltrauts Ehemann, Vater von Susanne und Inga
Norbert
Susannes Ehemann, Vater von Pia und Hajo
„Wölfinnen“ ist ein Kammerspiel, d.h. es basiert auf psychologischem Sprechtheater.
Die Geschichte ist fiktiv, bezieht sich jedoch auf historische Quellen, die zu einer konsistenten Erzählung verdichtet werden.
In einigen Retrospektiven spielen die Darstellerinnen zudem Mutter, Großmutter und Tochter, verkörpern also die Frauenfiguren in unterschiedlichen Lebensphasen auf der Bühne.
Zum Bild, das das männliche Geschlecht in den Nachkriegsjahren hinterließ, trugen auch die Sieger bei, die Hitlers Truppen nach sechs mörderischen Jahren endlich in die Knie gezwungen hatten. Im Osten wie im Westen gleichermaßen wurden Tausende Frauen von alliierten Soldaten vergewaltigt, häufig mehrfach. Ein Dokument zum „Schändungsbetrieb“, wie sie es nennt, ist das Tagebuch der Journalistin Marta Hillers, das nach seiner zweiten Publikation im Jahr 2003 unter dem Titel „Eine Frau in Berlin“ zu einem internationalen Bestseller wurde.
Die Jahre nach dem Krieg waren in Deutschland die Jahre der Frauen. Vielerorts gab es ein Verhältnis von 6:1 (Frauen zu Männern). Nicht nur die Trümmerfrau blieb im Gedächtnis. In nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen übernahmen Frauen Schlüsselfunktionen. Sie verbreiteten dabei zeitweise eine neue Kultur weiblicher Offenheit, die von der drückenden Atmosphäre der hitlerischen Jahre Lichtjahre entfernt war. Die Frauen erwarben in kürzester Zeit viele Kompetenzen, waren Mütter, Geschäftsfrauen, virtuose „Lebensbewältigerinnen“, und übernahmen die Verantwortung im Wiederaufbau dieses Landes. Das änderte sich, als die Männer aus ihren Gefangenschaften entlassen wurden. Die Journalistin Marta Hillers beschreibt eine Situation kurz nach der Heimkehr ihres Verlobten Gerd.
Als die Frauen eines Abends zusammensaßen gaben sie Geschichten zum Besten, in denen sie erzählten, was ihnen nach Kriegsende zugestoßen war. Der Heimkehrer ertrug das neue Selbstbewusstsein im Auftreten der Frauen nicht. „Ihr seid schamlos wie die Hündinnen geworden“, sagte er, „Ihr alle miteinander, Es ist entsetzlich mit Euch umzugehen. Alle Maßstäbe sind euch abhanden gekommen“. Der besiegte Mann sah nicht die Frau durch die Vergewaltigungen entehrt, sondern in erster Linie sich selbst. Angewidert stieß er sie weg, statt ihr Trost und Wärme zu schenken. Der Schatten, über den ein Mann hätte springen müssen, um seiner in Wahrheit doch ganz schuldlosen Frau „vergeben“ zu können, galt als übermächtig. Blieben die Paare zusammen, verpflichteten sie sich wortlos zum Beschweigen. Die erleichternde Offenheit, mit der die Berliner Frauen über den „Zwangsverkehr“, wie er behördlich genannt wurde, gesprochen hatten, dauerte nur kurze Zeit, dann hatte die von Männern wie Gerd geforderte Scham wieder Einzug gehalten und die erlittenen Verbrechen unter einer Decke des Schweigens versiegelt. Nun war es Scham, die kollektiviert wurde. Sie senkte sich über die Frauen als abermaliges Unrecht. Machte eine ihre Erlebnisse öffentlich, wurde sie verurteilt, ihre physischen und psychischen Verletzungen relativiert und ihre oftmals eine Teilschuld an der Vergewaltigung gegeben.
Unsere Geschichte spielt in der Stadt Quedlingburg, die in der Region des östlichen Vorharzes liegt. Die Vergewaltigung der Großmutter der Protagonistinnen Susanne und Inga wird durch einen russischen Soldaten verübt. Inga selbst erlebt als junges Mädchen einen Übergriff durch einen in der DDR stationierten, desertierten russischen Soldaten. Kurz nach der Wiedervereinigung verlässt sie ihre Familie und kehrt dieser in jeder Hinsicht den Rücken. Auch Inga beschweigt die erlittene Verletzung und gibt ihrer Familie keine Gelegenheit, daran teilzuhaben. Die Wende wirkt hier wie ein Katalysator, macht die mehr oder weniger gewünschte Abspaltung und Neufindung Ingas vollständiger. So hat sie selber das Gefühl, ihre Familie in der „alten Zeit“ zurückgelassen zu haben.
Im Verlaufe der Inszenierungsphase wurde uns schnell deutlich, dass wir durch eine „Über“-Deutung dieser Geschehnisse diversen Projektionen aufsitzen würden, sollten wir versuchen, aus der Geschichte massenpsychologische Verhaltungsmuster „der“ Ostdeutschen abzuleiten. Zudem, dass derartige Vereinfachungen schnell ins Leere führen, wären wir unseren Figuren nicht gerecht geworden, deren Motive wir genau ausgeleuchtet haben. Abschottung zum Schutze vor weiteren Verletzungen bestimmt auf eine sehr weitverzweigte Weise das Verhalten Susannes und Ingas. Dieses gegenseitige Errichten von Trutzburgen nährt Feindschaften und provoziert z. T. wütende Abwehrreaktionen. Die sterbende, dement kranke Mutter schließlich zeigt ihren Töchtern den Weg. Ihre Zeichnungen, die Susanne und Inga gemeinsam betrachten, aktivieren deren gemeinsames Gedächtnis. Indem sich Inga und Susanne daraufhin wieder für einander öffnen, treten sie ihren eingekapselten Verletzungen gegenüber.